Adventskalender - Türchen 9

Dieses weihnachtliche Geschichte stammt von unserem Mitglied Regina E.G. Schymiczek.Regina E.G. Schymiczek schreibt Historische Romane, Kinderbücher und Kunsthistorische Fachbücher. 

Das Gänsewunder

Regina E.G. Schymiczek

 

Raphael stürzte sich blitzschnell auf den jungen Ganter und stülpte ihm den Sack über. Er hielt das Tier mit seinem Körpergewicht auf dem Boden und griff mit der rechten Hand dorthin, wo er den Schnabel vermutete. Dann sprang er auf und flüchtete mit seiner Beute aus dem Gänsestall, wo bereits die Hölle losbrach. Jetzt musste er schnell sein – das Gezeter der Tiere würde in Kürze jemanden aufwecken, und er durfte sich nicht erwischen lassen. Schon während er über den Hof des Stiftes rannte, sah er, wie in verschiedenen Räumen der Gebäude Lichter entzündet wurden.

Der Winter des Jahres 1140 war besonders hart. Seit dem Allerheiligentag im November herrschte Frost. Es fiel immer wieder Schnee, und fast wäre Raphael auf dem vereisten Boden ausgerutscht.

Er wusste, dass er ein hohes Risiko eingegangen war. Mit Dieben wurde kurzer Prozess gemacht. Da kannte auch die Hochedle Äbtissin Theophanu, die die Gerichtshoheit in Astnide innehatte, keine Gnade. Auf Diebstahl stand das Abhacken der Hand oder sogar der Strang.

Nun wollte aber Raphaels Freund, der Schmied Gottfried, nach dem Weihnachtstag heiraten. Und Raphael hatte sich vorgenommen, ihm den Festtagsbraten dazu zu spendieren. Geld hatte er allerdings keines.

Seine Eltern waren so früh gestorben, dass er keine Erinnerung mehr an sie hatte. Andere Familienangehörige besaß er nicht, doch da er ein hübsches Kerlchen mit dicken schwarzen Locken war, hatte er immer jemanden gefunden, der ihn unter seine Fittiche nahm.

Mit seinen mittlerweile 14 Jahren galt er aber als erwachsen und musste seit einiger Zeit selbst für sein Auskommen sorgen. Er begann, sich mit allerlei Hilfsarbeiten durchzuschlagen und schlief hier oder dort in einem Stall. Auch in der Schmiede half er immer wieder aus. Gottfried war mit seiner Arbeit schließlich so zufrieden, dass er ihm anbot, bei ihm in die Lehre zu gehen. Das bedeutete für Raphael ein neues Leben als ehrbarer Handwerker – etwas, von dem er noch kurz zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hatte.

Dafür wollte er sich erkenntlich zeigen – und war in den Gänsestall des Stiftes eingebrochen.

„Bei den vielen Gänsen wird eine weniger nicht auffallen“, dachte er. Allerdings hatte er die Wachsamkeit der Stiftsbewohner unterschätzt.

Schon hörte er Schritte und Rufe, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Er drückte sich in den Schatten der Mauer und überlegte. Noch immer hielt er den Schnabel des Tieres fest zugedrückt, damit ihn das Schnattern nicht verraten konnte.

Seine Verfolger kamen näher. Raphael versuchte, sich die Lage der Gebäude des Stiftes ins Gedächtnis zu rufen, um sich zu orientieren. Da sah er eine offene Tür, die in einen dunklen Raum führte. Schnell huschte er hinein und lehnte die Tür von Innen an. Er lauschte angespannt. Draußen riefen die Wachleute durcheinander.

„Die Schatzkammer wurde aufgebrochen! Wir wurden beraubt!“

„Dort hinten habe ich jemanden laufen sehen!“

„Packt den Dieb!“

Raphael war verwirrt. Waren die am Ende gar nicht hinter ihm her? Gab es noch einen anderen Dieb? Plötzlich spürte er, dass er nicht allein in dem dunklen Raum war, bei dem es sich anscheinend um ein kleines Lager handelte. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und er glaubte eine Gestalt zu sehen. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, spürte er eine Klinge an seiner Kehle und eine raue Stimme fuhr ihn an: „Keinen Mucks, sonst bist du tot! Und leg den Sack mit deiner Beute ab, die kann ich noch gut zu meiner dazu nehmen.“

Gut, dachte Raphael, den Gefallen tue ich dir gerne.

Er legte den Sack vorsichtig auf den Boden – um ihn dann mit einem Ruck an einem Zipfel hochzuziehen und zur Seite zu springen. Mit heftigem Flügelschlagen und einem wütenden Zischen stürzte sich der befreite Ganter auf den Mann, der vor ihm stand und biss ihn in die Hand. Der war völlig überrascht und fürchtete, die Dämonen der Hölle wollten ihm die Seele aus dem Leib reißen. Er ließ sein Messer fallen und stolperte in Panik aus der Tür. Eine kostbare Kette, die er in seine Jackentasche gestopft hatte, fiel heraus und dem Ganter um den Hals. Das machte diesen noch wütender und er setzte seine Attacken fort. So trieb das Tier den Dieb genau in die Arme der Wachleute.

Mit Erstaunen hörte die Äbtissin später den Bericht ihrer Wachmannschaft. Der Hauptmann versicherte ihr, dass ein Ganter den geraubten Schatz des Stiftes gefunden und geschmückt mit einer Kette, an der ein geweihtes Kreuz hing, den Dieb verfolgt hatte. Schnell machte die Geschichte von dem „Gänsewunder“ die Runde – von Raphael war darin aber nicht die Rede. Der hatte sich versteckt, bis der ganze Rummel vorbei war. Nicht ohne unablässig sämtliche Heiligen anzuflehen, ihn vor einer Entdeckung zu schützen. In den frühen Morgenstunden konnte er sich dann endlich unentdeckt davonmachen.

Bei der feierlichen Messe zum Hochfest der Geburt des Herrn sang Raphael besonders laut mit – und versprach Gott und allen Heiligen, nie mehr etwas zu stehlen.

Und für noch jemanden endete die Geschichte glimpflich: Der Ganter hatte sich durch seine Heldentat die Dankbarkeit der Äbtissin und aller Stiftsdamen verdient, sodass er dem Schlachtbeil entging und ein lebenslanges Wohnrecht im Stift erhielt.

 

ENDE

 

 

 

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